Gerhard Winter setzte sich für demokratische Entscheidungsprozesse in der Politik ein (©Privat)

Systemisches Konsensieren - der Weg in eine neue Politik?

Autor: Nicole Thurn
Datum: 08.11.2024
Lesezeit: 
4 Minuten

Viele Menschen haben genug von einer Politik, die sich an Macht und Parteiinteressen orientiert. Der Grazer AHS-Lehrer Gerhard Winter setzte sich zeit seines Lebens für Systemisches Konsensieren im Parlament ein - und damit für mehr Sachpolitik statt Machtpolitik. Ein Nachruf.

Partizipative Entscheidungsprozesse finden immer mehr Eingang in Unternehmen, wenn es um Selbstorganisation von Teams geht. Doch selten werden sie dort eingesetzt, wo echte Demokratie vonnöten ist: in der Politik. Der Grazer Gerhard Winter setzte sich bis ins hohe Alter dafür ein, die Methode Systemisches Konsensieren den hiesigen Politiker*innen in Österreich schmackhaft zu machen. Ich persönlich lernte den rüstigen Rentner mit den lachenden Augen, der leidenschaftlich politisierte, über eine liebe Kundin kennen. Sie beauftragte mich, für ihn eine Pressemitteilung zu verfassen, die an die Innenpolitik-Redaktionen des Landes ging. Damals gab es leider kaum Resonanz. Nun ist Gerhard Winter verstorben - und sein innovativer, junggebliebener Veränderungswille hallt nach. Denn die Politikverdrossenheit in Österreich ist groß wie nie. Die Wahlbeteiligung bei den Nationalratswahlen 2024 in Österreich war mit 77,7 Prozent die drittniedrigste seit der Zweiten Republik - nur im Jahr 2013 und 2019 hatten noch weniger Menschen ihre Stimmen abgegeben.

Damals, bei unserem Gespräch im Juli 2023 auf seiner Veranda bei Graz, redete sich Gerhard Winter leidenschaftlich in sanfte Rage: „Klimawandel, Teuerung, Pandemie und Präkariat: In der Politik muss sich endlich etwas ändern – wir brauchen für große Lösungen eine echte Demokratie, die für die Menschen arbeitet und nicht für die Parteien“, sagt er. Der 85-Jährige bezeichnete sich als überzeugter Demokrat – und als Mann der Tat hatte er an die gesamte Regierung und den Bundespräsidenten einen eindringlichen Brief geschickt, samt seiner Schrift „Herausforderung Demokratie – Systemisches Konsensieren im Parlament“. Der rüstige Rentner appellierte darin an die Parlamentarier*innen: „Besinnen Sie sich auf Ihren verfassungsmäßigen Auftrag, das Volk zu vertreten.“ Sein erklärtes Ziel: das Systemische Konsensieren als Beitrag zu echter Demokratie öffentlich zu diskutieren, in die Politik bringen und so Machtpolitik in Sachpolitik zu verwandeln. 

Der ehemalige AHS-Lehrer hat lange beobachtet, wie die Politik sich mehr in parteipolitischen Querelen ergießt, als sich um echte Lösungen für die Bevölkerung zu kümmern. Dabei ist laut Gerhard Winter das Systemische Konsensieren, der basisdemokratische Prozess zur Entscheidungsfindung, ein geeignetes Tool, um rasch gemeinsame Entscheidungen aus verschiedenen Meinungslagern zu ermöglichen. Gerhard Winter hatte die Methode vor einigen Jahren bei deren Begründer Erich Visotschnig in einem Seminar gelernt und sie hat ihn nicht mehr losgelassen. Und jetzt sei es endlich Zeit, auch die Politik für diese sinnvolle Methode zu sensibilisieren, - so wie die Methode auch gedacht war, sagt er: „Die Menschen sind zunehmend politikverdrossen, weil es den Politikern nur mehr um Machtpolitik und das strategische Gewinnen von Wählerstimmen geht“, so Winter. 

Konsens statt Konflikt 

Erfunden und entwickelt wurde der Ansatz des Systemischen Konsensierens von den beiden Systemanalytikern Erich Visotschnig und Siegfried Schrotta. Erich Visotschnig hatte in den 1970ern mit Freunden eine Schule gegründet, Mehrheitsabstimmungen führten allerdings zu Konflikten. Jeden Freitag Abend wurden in Verwaltungssitzungen über Entscheidungen gestritten: „Das Mehrheitsprinzip führt dazu: man will überstimmen oder man wird überstimmt. Und da es um Wichtiges geht, gibt es naturgemäß irgendwann Streit“, erzählte mir Erich Visotschnig, der die Initiative von Gerhard Winter nach mehr öffentlicher Wahrnehmung voll unterstützt. Die Grundlage des Systemischen Konsensieren sei dagegen laut Erich Visotschnig: „Die Achtung vor einem Menschen zeigt sich durch die Achtung vor seinem Nein. Beim Mehrheitsprinzip wird das Nein überhaupt nicht gewürdigt, es ist ein konflikterzeugendes Prinzip.“ Inzwischen gibt es rund 20 Werkzeuge zum Systemischen Konsensieren, das kooperative und konsensnahe Entscheidungen auf Augenhöhe ermöglicht und die Perspektive und Bedürfnisse aller Beteiligten einbezieht – und das bei beliebig vielen Teilnehmenden. 

Beim Systemischen Konsensieren werden möglichst viele Lösungsideen zu einer Problemstellung gesammelt, dann wird abgestimmt – allerdings nicht nach Mehrheitsprinzip. Jeder Teilnehmer erhält Kärtchen von 1 bis 10 und zeigt jene vor, die seinen Widerstand gegen die abzustimmende Idee am besten repräsentiert. 1 bedeutet kaum Widerstand und somit volle Zustimmung, 10 bedeutet maximaler Widerstand. Die gezeigten Punkte der Gruppe werden addiert und so werden Blockaden gegen Ideen sofort sichtbar. Die Beteiligten mit besonders großem Widerstand haben die Aufgabe, neue Lösungsvorschläge und Verbesserungsvorschläge einzubringen. Im New Work Kontext hilft Systemisches Konsensieren Teams dabei, selbstorganisiert und effektiv in kurzer Zeit Entscheidungen zu treffen und dabei Widerstände auszuräumen.

„Die Menschen versuchen dann ganz automatisch, die Meinungen und Bedürfnisse aller anderen miteinzubeziehen, damit ihre Idee möglichst wenig Widerstand erhält“, erklärte mir Gerhard Winter. Es wird solange konsensiert, bis kein weiterer Vorschlag gemacht wird – ein blockierendes Veto, wie bei Mehrheitsabstimmungen üblich, entfällt. Was bedeutet: die bestmögliche Lösung für alle Beteiligten wurde gefunden. 

BürgerInnen-Partizipation in Gemeinden 

Rückenwind hat sich Gerhard Winter von weiteren renommierten Vertretern und Befürwortern des Systemischen Konsensierens geholt: Dominik Berger hat mit Erich Visotschnig und anderen gemeinsam die Initiative www.gemeinsam-entscheiden.at – Ideenschmiede für Politische Innovation gegründet. Damit begleiten sie vor allem Gemeinden bei Entscheidungsprozessen: „Einige Gemeinden sind sehr offen für partizipative Prozesse, weil die Bürgermeister es als ihre Aufgabe sehen, die BewohnerInnen einzubinden“, sagte Dominik Berger auf meine Nachfrage. Das Fazit: endlose Diskussionen am Stammtisch über Gemeinderatsentscheidungen und Unzufriedenheit in der Bevölkerung würden drastisch abnehmen. Die oberösterreichische Gemeinde Munderfing etwa hat das Systemische Konsensieren in die Leitlinien der Gemeinde aufgenommen. Die Schließung von Bahnübergängen mit mehreren Optionen stand bevor, Bürger-VertreterInnen entschieden gemeinsam nach dem SK-Prinzip darüber. „Auch der Entscheidungsprozess selbst wurde vorab konsensiert – nämlich, dass nicht der Gemeinderat, sondern die BürgerInnen selbst entscheiden sollten“, so Berger. 

Der Gemeinwohl-Ökonomie- Experte Christian Felber ist ebenfalls ein Fan des Systemischen Konsensierens und unterstützte Gerhard Winters Initiative: "Die Methode ist eine intelligente soziale Innovation zur Weiterentwicklung der Demokratie. Sie bringt alle relevanten gesellschaftlichen Positionen auf den Tisch und lässt in der Abstimmung darüber den polarisierenden Extrempositionen keine Chance, weil der empathischste, umsichtigste, letztlich dem Gemeinwohl förderlichste Vorschlag gewinnt." 

Ob das österreichische Parlament für diese Methode reif ist und tatsächlich von machtpolitischen Gelüsten abrücken will? „Dessen bin ich mir nicht so sicher“, lächelte Gerhard Winter schulterzuckend, „aber das Europäische Parlament wäre prädestiniert dafür“. Er kann sich auch eine digitale Konsensierung vorstellen – etwa via App, über die jede/r einzelne Abgeordnete für sich zeitunabhängig über Ideen abstimmt. „Das wäre rasch umsetzbar und könnte Entscheidungsprozesse weiter beschleunigen“, so Winter. 

Gerhard Winter hoffte damals sehr, dass der öffentliche und politische Diskurs das Thema aufnimmt: „Wir leben in einem neuen, komplexen Zeitalter und brauchen endlich eine neue Politik, die den Menschen dient.“ Nun ist Gerhard Winter im Alter von 86 Jahren plötzlich verstorben. Auch wenn er es nicht mehr erlebt, vielleicht wird die Zeit doch irgendwann reif für echte Partizipation abseits von quälender Parteipolitik.

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Beitrag von Nicole Thurn

ist Herausgeberin von Newworkstories.com, New-Work-Enthusiastin und langjährige Journalistin mit einem kritischen Blick auf die neue Arbeitswelt.

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