Scrum, Kanban, Design Thinking: Agiles Arbeiten ist viel mehr als ein Buzzword – und auch mehr als Methoden. Im Interview erzählt Agile-Expertin Anett Stimmeder, wie Unternehmen das Potenzial heben, um veränderungsfähiger zu werden.
Ohne das richtige Mindset bleibt Agilität ein Buzzword“, sagt Agile-Expertin und Business Coach Anett Stimmeder. Denn nur agile Methoden allein würden noch nicht echten Wandel bewirken. Anett Stimmeder begleitet als agile Trainerin und Coach Unternehmen und Teams durch die agile Transformation. Im Interview erzählt sie, wie wir starre Strukturen in den Köpfen und der Zusammenarbeit aufbrechen.
NewWorkStories: Das Wort „Agilität“ und „agiles Arbeiten“ ist allgegenwärtig. Warum sollten Unternehmen agiler werden? Oder ist das nur ein vorübergehender Trend?
Anett Stimmeder: Agilität ist weit mehr als ein Trend – es wird zur Notwendigkeit. Die Anforderungen an Unternehmen haben sich in den vergangenen Jahren enorm verändert. Kunden erwarten maßgeschneiderte Produkte, kurze Reaktionszeiten und innovative Lösungen. Gleichzeitig müssen Unternehmen flexibler mit internen und externen Veränderungen umgehen können – sei es durch neue Marktanforderungen oder sich wandelnde Mitarbeiterbedürfnisse. Doch Agilität wird oft falsch verstanden. Viele glauben, es gehe nur um Methoden wie Scrum oder Kanban, dabei beginnt Agilität im Kopf. Es geht darum, situativ zu handeln, flexibel auf Herausforderungen einzugehen und Neues auszuprobieren. Leider erlebe ich in der Praxis oft das Gegenteil. Während von Mitarbeitenden maximale Flexibilität gefordert wird, zeigen sich Unternehmen oft erstaunlich unflexibel. Das habe ich auch selbst bei der Jobsuche erlebt – etwa, wenn verlangt wird, ins Büro zu pendeln, um dort Online-Meetings abzuhalten.
Du beschäftigst dich als Agile Coach vor allem mit der agilen Haltung. Warum ist Mindset-Arbeit so wichtig?
Anett: Ich erlebe beispielsweise häufig, dass Führungskräfte sagen: mit meinen Mitarbeitenden, meinem Team, geht agiles Arbeiten nicht. Sie sprechen ihnen die Fähigkeit ab, agil zu denken und zu arbeiten – ein Anzeichen für ein eher „Fixed Mindset“. Solchen Führungskräften entgegne ich dann: Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie Ihrem Team gerade die Möglichkeit rauben, sich weiterzuentwickeln? Unternehmen müssen verstehen, dass sie mit der Einführung agiler Methoden nur den Rahmen setzen – der eigentliche Wandel beginnt im Denken und Handeln der Menschen. Natürlich helfen Methoden wie Scrum, klare Strukturen zu schaffen, oder OKRs, die Zielorientierung zu fördern. Aber ohne das richtige Mindset bleibt Agilität ein reines Buzzword.
Hast du dazu Beispiele, wie agiles Arbeiten sicher nicht funktioniert?
Ich erinnere mich an ein Projekt, bei dem Scrum eingeführt wurde, ohne die Teams auf die Veränderung vorzubereiten. Das Ergebnis war Widerstand: Die Mitarbeitenden fühlten sich überfordert und nicht ernst genommen. Ein weiteres Beispiel ist die unklare Kommunikation von Zielen. In einem Unternehmen, das ich betreut habe, wurde eine agile Methode eingeführt, um die Zusammenarbeit zwischen Abteilungen zu verbessern. Doch weil niemand wusste, was genau erreicht werden sollte, blieb der Erfolg aus. Erst als wir gemeinsam konkrete Ziele definierten, konnten wir Fortschritte erzielen. Erst mit dem richtigen agilen Mindset können Teams Methoden wie Scrum, Kanban oder Design Thinking nicht nur mechanisch umsetzen, sondern sie mit Leben füllen und an ihre spezifischen Bedürfnisse anpassen. So wird eine agile Kultur nachhaltig gelebt. Das bedeutet aber auch, dass Unternehmen Raum für Fehler schaffen müssen.
Was ist denn nun ein agiles Mindset im Unterschied zum gängigen Mindset?
Ein agiles Mindset ist im Grunde ein Teil des Growth Mindsets, wie es die bekannte US-Psychologin Carol Dweck beschreibt. Und beides lässt sich trainieren – wenn man die bewusste Intention setzt. Das Growth Mindset zielt generell auf die persönliche und berufliche Weiterentwicklung ab, das agile Mindset hilft, im Job flexibel zu bleiben, Neues auszuprobieren und auf Veränderungen konstruktiv zu reagieren. Als Kinder haben wir von Natur aus ein Growth Mindset. Kleine Kinder lernen täglich so vieles mit Neugierde, Beharrlichkeit und Freude. Doch ab einem bestimmten Alter – meist mit Eintritt in die Schule – beginnen sie, das zu verlernen, das Fixed Mindset wird gefördert. Plötzlich geht es darum, besser als andere zu sein, keine Fehler zu machen. Im Grunde müssen wir uns nur an unser Growth Mindset zurückerinnern. Jeder trägt den Samen in sich – wir können ihn zum Wachsen bringen, der Prozess dauert dann einfach länger. Das Motto meiner Arbeit ist daher auch „Reveal your agile Potential“ – also das agile Potenzial aufdecken, dass durch gesellschaftliche Normen und Glaubenssätze bisher verdeckt wurde.
Du sagst: „Agil ist kein Projekt.“ Was meinst du damit?
Viele Unternehmen betrachten Agilität als ein zeitlich begrenztes Projekt, das man nach einem Jahr erfolgreich abschließen kann. Das ist ein grundlegender Irrtum. Agilität ist ein fortlaufender Transformationsprozess, der nicht mit der Einführung einer agilen Methode abgeschlossen ist. Es geht darum, sich ständig zu fragen: was können wir anders machen, was besser? Was können wir aus dem, was wir bislang gemacht haben, lernen? Was können wir weiterentwickeln und wie? Wie können wir eine positive Fehler- und Lernkultur etablieren? Ich erinnere mich an die Frage eines Auftraggebers, wie lange es denn dauern würde, bis alle Mitarbeitenden ein „agiles Mindset“ hätten. Die eine Antwort gibt es nicht. Manche Menschen brauchen nur wenige Wochen, andere Monate oder sogar Jahre, um sich auf diesen Denkansatz einzulassen.
Was ist aus deiner Sicht das größte Missverständnis rund um Agilität?
Viele verbinden Agilität mit Chaos. Ich höre oft von Mitarbeitenden, dass sie Agilität mit endlosen Meetings gleichsetzen, die sie von der eigentlichen Arbeit abhalten. Dabei hat Agilität klare Strukturen, die Orientierung geben. Ich nutze dafür oft das Bild einer Autobahn. Die Leitplanken geben einen Rahmen und Orientierung, damit das Auto auf Kurs bleibt. Innerhalb dieser Leitplanken können die Teams flexibel agieren. Ein anderes Missverständnis ist, dass Agilität maximale Effizienz bedeutet. Doch Agilität ist kein Turbo-Modus, sondern ein Ansatz, um die richtigen Prioritäten zu setzen und gezielt zu handeln. Ein Beispiel: In einem meiner Workshops erklärte ein Teilnehmer, dass er durch die Einführung agiler Methoden mehr Freiraum für kreative Aufgaben gefunden habe, weil die Routinetätigkeiten klarer strukturiert wurden. Agiles Arbeiten ist nicht unbedingt schneller und effizienter, sondern gezielter und effektiver.
Du hast deinen Schwerpunkt auf kleine und mittelständische Unternehmen gelegt. Wo liegt ihr Potenzial in Bezug auf Agilität?
KMU haben oft den Vorteil, dass sie schneller auf Veränderungen reagieren können als Konzerne. Gleichzeitig kann eine einzige Fehlentscheidung für sie bereits existenzbedrohend sein. Viele sind auch traditionsbewusste Familienunternehmen, bei denen der Generationswechsel für frischen Wind und agiles Arbeiten sorgt – das ist oft herausfordernd. Ich erinnere mich an ein Unternehmen, das ich begleitet habe: Die Tochter übernahm die Leitung von ihrem Vater und wollte das Unternehmen agiler gestalten. Dabei stieß sie auf Widerstände bei langjährigen Mitarbeitenden, die an alten Strukturen festhielten. Gemeinsam haben wir einen Ansatz entwickelt, der die bisherigen Werte des Unternehmens bewahrt und neue, agile Arbeitsweisen ermöglich hat. Der Erfolg lag darin, alle einzubinden und schrittweise vorzugehen.

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Wie bist du denn selbst zum Thema Agilität und Mindset gekommen?
Ich habe damals in einem Startup im Vertrieb gearbeitet. Eine Vertriebsschulung hat mich aufgerüttelt, in der wir uns mit der Frage der eigenen Stärken und Ziele beschäftigt haben. Später, in einem größeren Unternehmen, wurde ich mit OKRs, einer agilen Methode zur Zielerreichung, konfrontiert. Leider war die Einführung alles andere als ideal. Es gab keine tiefergehende Schulung, sondern nur ein Lernvideo – und wir sollten einfach loslegen. Das führte zu Frustration und Missverständnissen, weil vielen Kolleg*innen der Sinn hinter dieser Methode nicht klar war. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, wie wichtig es ist, Menschen bei Veränderungen mitzunehmen. Zum Thema Mindset bin ich gekommen, als ich als Vertriebstrainerin nicht ausgelastet war und begonnen habe, Seminare zu Kommunikation und Mindset im Verkauf anzubieten. Die parallele Ausbildung zum NLP-Practitioner hat mir dann beruflich und privat sehr geholfen. In meiner Selbstständigkeit habe ich dann mein Wissen rund um agiles Mindset vertieft.
Wie unterstützt du Unternehmen konkret dabei, agiler zu werden?
In meinen Workshops finde ich gemeinsam mit den Teilnehmer*innen heraus, wo das Team oder das Unternehmen gerade steht. Ich setze auf praktische Übungen, die die Teilnehmer*innen motivieren, über den Tellerrand zu schauen und neue Ansätze zu testen. Wichtig ist, dass Agilität immer als Ganzes betrachtet wird – Methoden und Mindset müssen Hand in Hand gehen, immer mit den kleinstmöglichen Schritten. Ich führe beispielsweise eine Check-in-Runde ein, bei der die Mitarbeitenden zu Beginn jedes Meetings ihre Erfolge und Herausforderungen der Woche teilen. Das ist zunächst ungewohnt, schafft aber schnell eine offenere und produktivere Atmosphäre.
Auch wenn das Mindset das Fundament ist – hast du eine agile Lieblingsmethode?
Meine agile Lieblingsmethode ist OKR – damit arbeiten Menschen besser und effektiver in Richtung Zielerreichung zusammen. Ich starte gern mit OKR in der Geschäftsführung: sie gibt ihre Objectives und Key Results – also ihre Ziele und die dazugehörigen messbaren Ergebnisse – vor. Die Geschäftsführung will zum Beispiel eine Umsatzsteigerung von 30 Prozent im kommenden Jahr. Dann wird nach unten kaskadiert: Die Abteilungen und Teams wählen Key Results aus, an denen sie konkret arbeiten wollen. Dazu definieren sie wiederum kleinere Objectives und Key Results. Was kann das Vertriebsteam dazu beitragen – mit welchen konkreten Ergebnissen? Und welche messbaren Ergebnisse muss das Marketingteam erreichen? Beide Teams arbeiten dann interdisziplinär an der Zielerreichung.
Was ist dein Tipp für mehr Agilität im Joballtag?
Beginne mit kleinen Veränderungen: das Meeting mit einer Check-in-Frage zum Wochenende oder Start in den Tag zu beginnen, lockert die Atmosphäre auf und fördert den weiteren Austausch. Auch im privaten Umfeld lässt sich das agile Mindset trainieren: etwa beim nächsten Restaurantbesuch statt der Lieblingsspeise bewusst etwas Neues auf der Speisekarte auswählen. Agilität ist kein Sprint, sondern ein Marathon – und den beginnt man mit dem ersten Schritt.
Anett Stimmeder: Agile Potenzialentfalterin
Nach Jahren als Leiterin eines Vertriebsteams in einem Berliner Startup und als Vertriebstrainerin in der EMEA-Region für ein großes US- Software-Unternehmen ließ Anett Stimmeder ihre Karriere im Jahr 2023 hinter sich, um ihr eigenes Unternehmen aufzubauen. Als Business Coach, Agile Trainerin und OKR Coach begleitet sie Mittelständler bei ihrer Transformation in erfolgreiches agiles Arbeiten vor Ort und remote. Sie ist Mutter eines Kindes und lebt seit 2019 in Wien-Umgebung.