Marlies Vitzthum hilft Führungskräften dabei, sicher und gelassen zu führen (© Somanima)

Gestresste Gemüter: "Wir brauchen eine echte Präsenzkultur"

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Autor: Nicole Thurn
Lesezeit: 
7 Minuten

Ständige Ablenkung, Stress und Überarbeitung: Damit macht Marlies Vitzthum Schluss. Sie zeigt Führungskräften, wie sie vom Kopf in den Körper kommen, um sich selbst und andere präsent und sicher zu führen.

In unserer Gesellschaft rauchen die Köpfe. Egal ob beruflich oder privat, der mental load steigt – gerade für Frauen: tausende To Do’s türmen sich auf den Schreibtischen, die Kinder müssen zum Fußball/Geigenunterricht/Ballett, der Chef will den Bericht bis vorgestern, der Haushalt macht sich nicht von selbst und das Team ist in Aufruhr wegen der geplanten Unternehmens-Transformation. Marlies Vitzthum hat es sich zur Aufgabe gemacht, Leader*innen dabei zu unterstützen, vom Kopf wieder in den Körper zu kommen. So lernen sie zu entstressen und die innere Sicherheit wiederzuerlangen. Die Gründerin von Somanima – Institute for Growth verknüpft mit Embodied Leadership Körperbewusstsein und Führung miteinander. Nach fordernden Jahren als HR-Leiterin   eines Konzerns fand Marlies durch Somatic Experiencing und Yoga in ihren Körper und zu mehr Stressfreiheit, zu besserer Kommunikation und wirkungsvollerem (Self-)Leadership. Im Interview gibt sie Einblicke in ihren Weg und erklärt uns, warum Präsenz in Zeiten von Entgrenzung und Work Overload so wichtig ist.

NewWorkStories: Marlies, wie bist du auf das Thema Embodied Leadership gekommen?

Marlies Vitzthum: Ich habe Wirtschaft und Psychologie studiert und war immer schon fasziniert davon, warum Menschen so ticken, wie sie ticken. Nach zehn Jahren in einem internationalen Konzern, vor allem in der HR-Leitung, habe ich gemerkt, dass es unglaublich wichtig ist, die Verbindung zwischen Menschen zu schaffen und für ihre Anliegen den Raum zu halten. Mir wurde klar, dass ich dafür mehr Zeit aufwenden möchte, als es mir meine operative Tätigkeit ermöglicht hat. So begann meine Reise in die Selbstständigkeit. Ich habe mich dabei intensiv mit Embodiment und neurowissenschaftlicher und psychologischer Forschung auseinandergesetzt.

Was bedeutet Embodied Self-Leadership für dich?

Embodied Self-Leadership bedeutet, dass ich trotz äußerer Unsicherheiten in meiner Präsenz verankert bin, sowohl körperlich als auch mental. Es geht darum, sich selbst gut zu kennen, die eigenen Ressourcen zu managen und so ein Vorbild für andere zu sein. Wenn eine Führungskraft präsent ist, überträgt sich das auf das gesamte Team. Präsenz entschleunigt die Dynamik und schafft ein Gefühl der Sicherheit. Diese Sicherheit ist besonders wichtig in unsicheren Zeiten. Wenn ich als Führungskraft gut in mir verankert bin, kann ich auch in schwierigen Momenten Ruhe bewahren, was sich positiv auf das gesamte Team auswirkt.

Hast du selbst bemerkt, wie sich dein Umgang mit Menschen durch dieses Bewusstsein verändert hat?

Absolut. Mir war nicht bewusst, wie sehr ich im Kopf war und wie oft ich einfach nur funktioniert habe. Abends nach der Arbeit war ich oft ausgelaugt. Erst durch meine Ausbildung zur psychologischen Beraterin mit Somatic Experiencing und Trauma-Elementen habe ich verstanden, wie wichtig die Mind-Body-Connection ist. Ich musste lernen, wirklich präsent zu sein und auf meinen Körper zu achten.

Warum siehst du Präsenz als Erfolgsfaktor für Leadership in der neuen Arbeitswelt?

Wir leben in einer Welt, die sich unglaublich schnell verändert. Die neuen Herausforderungen, von geopolitischen und wirtschaftlichen Umbrüchen bis hin zu technologischen Fortschritten wie künstlicher Intelligenz, erfordern von uns, dass wir uns ständig anpassen. Es hat 12 Jahre gedauert, bis das erste Smartphone 50 Millionen Menschen erreicht hat – bei ChatGPT waren es zwei Monate. Hinzu kommt: unsere Aufmerksamkeitsspanne wird immer geringer. Die liegt jetzt bei, sagen wir mal, acht Sekunden. Das heißt, wenn ich meinem Gegenüber etwas vermitteln will, dann muss ich relativ flott auf den Punkt kommen. Präsenz bedeutet in diesem Kontext, wirklich bei der Sache zu sein – mental, emotional und körperlich. Das schafft Vertrauen und Sicherheit, sowohl in sich selbst als auch im Umgang mit anderen. Erst durch meine Ausbildung zur psychologischen Beraterin mit Somatic Experiencing und Trauma-Elementen habe ich verstanden, wie wichtig die Mind-Body-Connection ist.

 Wie definierst du Präsenz konkret?

Präsenz bedeutet für mich, den Moment zu erfassen und das Gegenüber wirklich wahrzunehmen. Wir spüren das oft nur unbewusst . Wenn jemand wirklich präsent ist, merken wir das an der Körpersprache, der Aufmerksamkeit und auch an der Art und Weise, wie jemand zuhört und auf uns eingeht. Es ist das Gefühl, dass die Person ganz bei uns ist und sich nicht ablenken lässt. Laut einer Studie des Psychologen Albert Mehrabian aus den 1960er Jahren macht der Inhalt des Gesprochenen nur 7 Prozent der Kommunikation aus, die Körpersprache dagegen 55 Prozent – wenn beides nicht zusammenpasst. Das bedeutet, dass wir durch unsere Haltung, Mimik und Gestik viel mehr transportieren, als wir denken. Um präsent zu sein, kann uns also helfen, die Körpersprache im Teamsetting oder im Gespräch mit dem Mitarbeiter oder der Mitarbeiterin mehr zu beachten. Es gibt aber auch noch eine zweite Form der Präsenz, nämlich die Präsenz in Form von Self-Leadership, im Umgang mit mir selbst: Wie gehe ich mit meinen eigenen Ressourcen um? Kenne ich meine Grenzen überhaupt? Wann weiß ich, dass ich einmal Nein sagen muss? Wie viel Energie habe ich am Abend noch, wenn ich nach Hause komme? Und wie selbstbestimmt oder fremdbestimmt gehe ich durch den Arbeitsalltag oder überhaupt durchs Leben? Erst wenn ich mit mir präsent bin, kann ich mich auf andere einlassen.

Wie können wir in diesen Zustand der Präsenz kommen?

Ein Weg in die Präsenz ist, sich im Körper zu verankern. Der Körper trägt so viel Weisheit in sich, und wenn wir uns das zunutze machen und lernen, auf diese Signale zu hören, können wir bewusster und gelassener reagieren, anstatt impulsiv zu handeln. Es geht darum, ganzheitlich präsent zu sein – also nicht nur mental, sondern auch körperlich. Wenn wir uns nur im Kopf aufhalten, führt das oft zu einem erhöhten Stresslevel, das uns körperlich belastet. Ein einfaches Beispiel: Wenn wir in Bewegung kommen, sei es durch einen Tanz oder kleine Übungen, verändert sich unser Zustand sofort. Wir können fokussierter und präsenter in den nächsten Moment gehen. Zum Beispiel gibt uns der Körper bei einer Entscheidung Signale über mögliche Optionen. Oder er gibt uns Signale, wenn unsere Grenzen bedroht werden. Mit diesem verkörperten Führen – indem ich also auf den Körper achte, bevor ich auf eine Situation reagiere, können wir ganzheitlichere Entscheidungen treffen, Missverständnisse und Konflikte entschärfen oder es gar nicht soweit kommen lassen. Dann wird es möglich, anders als bisher zu reagieren. 

Mit der "Female Experts"- Serie begleite ich Expertinnen in die Sichtbarkeit. Teil davon ist eine kostenpflichtige Positionierungsberatung. Du bist Expertin für Neues Arbeiten oder Digitalisierung/KI? Dann buch bei mir einen virtuellen Kaffee:

Was können wir tun, um in einer von Ablenkungen geprägten Kultur bei der Sache zu bleiben?

Wir benötigen eine wortwörtliche Präsenzkultur. Denn: Auch wenn wir in Meetings körperlich anwesend sind, sind wir mit unseren Gedanken häufig woanders. Wenn ich im Meeting etwa sage „Jaja, ich habe es verstanden – das ist eine super Idee“  während ich auf mein Handy schaue, wird das bei den Kolleg*innen vermutlich nicht so gut ankommen. So etwas kann zu Missverständnissen und einer distanzierten Arbeitsatmosphäre führen. Um dem entgegenzuwirken, können wir schon vor dem Start des Meetings bewusst die Stimmung im Raum wahrnehmen und offen ansprechen, was gerade präsent ist, bevor wir uns auf die eigentliche Tagesordnung stürzen.

Mit welchen Themen kommen deine Klient*innen zu dir?

Häufig sind es Führungskräfte, die vor schwierigen Entscheidungen stehen oder in Change-Prozessen stecken und Widerstand im Team spüren. Aber auch Menschen, die sich im Hamsterrad des Arbeitsalltags gefangen fühlen, kommen zu mir. Sie sind meist bereits gut im Berufsleben verankert, aber gestresst, ausgebrannt oder haben die Orientierung verloren. In meinen Coachings arbeite ich mit Ansätzen aus dem systemischen Coaching und kombiniere sie mit Elementen des Embodied Leadership. Dazu gehören auch Techniken wie das Neurogene Zittern zur Regulierung des Nervensystems.

Wie funktioniert das genau?

Neurogenes Zittern ist ein natürlicher Reflexmechanismus des Körpers, der durch spezifische Übungen ausgelöst wird. Eine einfache Bewegungsabfolge fördert sanfte rhythmische Muskelkontraktionen, die helfen, tiefsitzende muskuläre Spannungen abzubauen. Es signalisiert dem Gehirn, dass eine Stresssituation vorbei ist, was den Körper zur Entspannung und Selbstregulierung anregt. Die meisten Menschen empfinden das als sehr angenehm und erleben danach eine deutliche Erholung, besseren Schlaf und einen ruhigeren Geist.

Warum sollte man den Körper im Business stärker einbeziehen, und warum tun wir das so wenig?

Im Business arbeiten wir oft im Krisenmodus. Unser Körper reagiert auf die ständige Reizüberflutung und den Druck von Stakeholdern oder Kund*innen mit Flucht- oder Kampfreflexen, die vom Stammhirn gesteuert werden – oft völlig unbewusst. Das Problem ist, dass wir nicht gelernt haben, diese Reaktionen zu bemerken und zu managen. Wenn ich nach einer gescheiterten Gehaltsverhandlung meine Wut unterdrücke, richtet sich diese Energie letztlich gegen mich. Das kann zu Stresssymptomen wie erhöhtem Blutdruck, schlechterem Schlaf und einem hohen Cortisol-Level führen. Es ist daher essenziell, auf den Körper zu hören und zu erkennen, wo sich Anspannungen aufbauen, sei es in schwierigen Gesprächen oder bei stressigen Meetings. Wenn eine Führungskraft in der Lage ist, Emotionen bei sich selbst und bei anderen wahrzunehmen und damit umzugehen, kann sie psychologische Sicherheit schaffen, auch wenn es mal rau zugeht oder Meinungsverschiedenheiten auftreten.

In der neuen Arbeitswelt erleben wir eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit. Der Workload nimmt zu, und Unternehmen stehen vor großen Herausforderungen. Wie lernt man, mit seiner Energie besser umzugehen und Grenzen zu setzen?

Das kann man durch regelmäßige Check-ins lernen. Ich empfehle, diese Check-ins an alltägliche Handlungen zu knüpfen, wie etwa, wenn man sich ein Glas Wasser holt oder auf die Toilette geht. Dann sollte man sich fragen: „Wie fühle ich mich gerade? Gibt es irgendwo Anspannung im Körper? Brauche ich eine kurze Pause?“ Manchmal hilft es, die vielen Gedanken einfach auf Papier zu bringen, um den mentalen Ballast zu reduzieren. Wenn ich spüre, dass ich überfordert bin, ist es wichtig, auch mal „Nein“ zu sagen oder Zeit zu gewinnen: „Ich melde mich später dazu.“ Diese regelmäßigen Check-ins helfen, wieder in den Körper zu kommen und bewusst wahrzunehmen, was man gerade braucht, bevor man von einer Aufgabe zur nächsten hetzt und sich selbst überrennt.

Wie steht es darum, Grenzen zu setzen, wenn das Gegenüber übergriffig wird?

Anderen Grenzen zu setzen muss man tatsächlich üben, weil es für viele ungewohnt ist. Es hilft, bewusst mehr Raum einzunehmen und klar und laut „Stopp!“ zu sagen, am besten mit einer bestimmten Körperhaltung, etwa einem Schritt nach vorne. So spürt man, wie es sich anfühlt, eine Grenze zu setzen. Gerade Frauen sind oft sozialisiert, nett und gefällig zu sein. Es ist wichtig, sich darin zu üben, diese Muster zu durchbrechen. Dafür kann man sich wunderbar Unterstützung von einem Coach holen. Das Bemerken und Setzen von Grenzen haben die meisten nämlich verlernt.

Du hast auch den Widerstand in Teams erwähnt. Was rätst du Führungskräften, die etwa in Transformationsprozessen mit Widerstand von Mitarbeitenden umgehen müssen?

Entscheidend ist, den Widerstand nicht sofort wegzuargumentieren, sondern ihn auszuhalten und Raum dafür zu geben. Führungskräfte sollten ihren Mitarbeitenden zuallererst richtig zuhören, gerade auch wenn Emotionen im Spiel sind. So können die Mitarbeiter*innen ihren Frust rauslassen und sie fühlen sich gehört und geschätzt, auch wenn sie anderer Meinung sind. Das ist oft der erste Schritt, um wieder konstruktiv ins Gespräch zu kommen. Man kann danach immer noch rational auf die Situation schauen und überlegen, wie es weitergeht. Den Raum zu geben, dass die Mitarbeiter*innen sich „auskotzen“ können, ist also sehr wichtig, um weitergehen zu können. Wichtig ist aber auch, dass das Team dann nicht völlig aufgelöst aus einem Meeting geht. Man sollte sie fragen, was sie brauchen, um mit der Situation umgehen zu können, und ihnen Orientierung geben, wie es für sie weitergeht. Das Wichtigste: Nur wenn die Führungskraft selbst gut in sich verankert und präsent ist, kann sie diesen Raum halten, auch unangenehme Situationen wie Kritik aushalten und selbst in stürmischen Zeiten handlungsfähig bleiben.

Hast du für uns zum Schluss eine Übung, die du empfehlen kannst, um mehr Präsenz zu entwickeln?

Musik an, die Kopfhörer aufsetzen und einfach lostanzen. Das kann man auch im Büro tun, vielleicht in einem ungestörten Raum oder notfalls am WC. Wenn das ausgelassene Tanzen zu ungewohnt ist, kann man mit kleinen Bewegungen beginnen und dabei auf die Reaktionen des Körpers achten. Mit Bewegung sortieren sich die Gedanken, und man kommt wieder bei sich an.

Die Expertin für Embodied Leadership: Marlies Vitzthum

Marlies Vitzthum ist diplomierte Wirtschaftswissenschaftlerin und psychologische Beraterin. Nach internationaler Tätigkeit und langjähriger Konzernerfahrung gründete sie Somanima | Institute for Growth. Mit Somanima unterstützt sie Führungskräfte und ambitionierte Menschen dabei, sich selbst und andere wirkungsvoll und präsent zu führen. Ihr Ansatz verbindet Führungskompetenz mit Körperbewusstsein. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse über die Regulierung des Nervensystems fließen mit ein. Marlies bietet Coachings, Workshops, Trainings und Vorträge an, die auf die Herausforderungen der modernen Arbeitswelt zugeschnitten sind. Auf www.be-somanima.com findest du weitere Informationen.

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