Interview. Anne M. Schüller, selbst bekennende Querdenkerin, Speakerin und Autorin, sagt: Das größte Problem der Unternehmen ist nicht, dass sie keine innovativen Leute finden. Sondern, dass sie innovatives Denken und Tun nicht zulassen.
Als die junge Anne nach ihrem BWL-Studium ihren gut dotierten Job bei der Bayrischen Vereinsbank kurz vorm großen Karrieresprung hinschmeißt, stößt sie auf breites Unverständnis. „Ich fühlte mich damals wie Dornröschen im Schloss, das nicht ausreiten darf“, wird sie mir rückblickend erzählen. Sie packt ihr Surfbrett auf ihren schnittigen BMW und düst damit vom verregneten München nach Nizza, um als Surflehrerin und Kellnerin zu jobben. Mit dem neuen Freiheitsgefühl beschließt sie, was für junge Leute heutzutage völlig normal ist: sich die Welt anzuschauen. In den nächsten Jahren lebt und arbeitet sie in elf Ländern.
Zurück in Deutschland steigt sie in der Hotelleriebranche vom Marketing bis in die Geschäftsleitung auf – und eckt mit ihren innovativen Ideen schließlich an. Diese Geschichte erzählt Anne M. Schüller ungern, passt sie doch so gar nicht in die professionelle, lineare Business-Welt. Dabei ist Anne M. Schüller damit ein Vorbild, ohne es zu wissen. Als bekennender Freigeist hat sie eben immer schon „die Dinge ein wenig anders gemacht als die anderen“. Heute gehört Anne M. Schüller zu den bekanntesten Speaker*innen und Autor*innen in Sachen Unternehmensführung im deutschsprachigen Raum. Mit ihrem neuesten Buch "Querdenker verzweifelt gesucht" will sie die Manager*innen aufrütteln. Unternehmen wollen zwar aus Veränderungsdruck heraus Richtung Neuland und die unternehmensinternen wahren, klugen, lösungsorientierten Querdenker*innen würden diesen Kurs unterstützen, nur: "Das Neuland, das für Querdenker*innen voller Chancen ist, ist für die anderen voller Gefahren." Und mit den anderen sind nicht nur die Mitarbeiter*innen gemeint, sondern auch die Führungskräfte. Initialzündung für das Buch war Annes LinkedIn-Artikel zum Thema, der mehr als 130.000 Reaktionen einbrachte. "Viele Leute haben mir Mails geschrieben, wie es ihnen als Querdenkern in den Unternehmen tatsächlich ergeht – sie trauten sich nicht, öffentlich Stellung zu beziehen", sagt Anne. Warum es so essentiell für Unternehmen ist, eine "querdenkerfreundliche" Kultur zu schaffen, und wie sich Menschen mit neuen Ideen in ihren Unternehmen durchsetzen können, erzählt Anne M. Schüller im Interview.
New Work Stories: Anne, dein Buch erschien im Herbst 2020, als der Begriff Querdenker in der Corona-Krise gerade sehr beschwert war. Wie definierst du ihn?
Anne M. Schüller: Ja, das war ein unglücklicher Zufall. Das Manuskript war schon im Mai fertig, die auf der Straße kamen erst danach. Man muss auf jeden Fall unterscheiden zwischen Querdenker und Querulant. Der Querdenker ist ja jemand, der nicht nur querdenkt, sondern die Dinge auch besser macht – und damit dieses „Das haben wir immer schon so gemacht“ aufbricht. Wenn er in dem einen Unternehmen nicht aktiv werden darf, geht er in ein anderes Unternehmen oder macht sich selbstständig – er nimmt also Risiken auf sich, um die Idee, an die er so glaubt, in die Welt zu bringen. Ein Querdenker ist also ein konstruktiver, nach vorne denkender, zukunftsgestaltender Denker und Macher. Der Querulant hingegen stellt sich einfach nur quer, bringt Unwahrheiten und Zwist in die Welt. Querulanten können auch extrem aggressiv werden, verbohrt und rechthaberisch sein.
Warum stoßen die Querdenker- und macher*innen denn häufig auf Widerstand in Unternehmen?
Man sieht in den Unternehmen oft nicht die Chancen, über Querdenker*innen den Schritt in die Zukunft zu machen, sondern nur das: Der ist dagegen und die Entscheidungen zweifelt er an. Als Chef fühlt man sich infrage gestellt, womöglich vorgeführt und demontiert. Das ist mit Ängsten verbunden: Etwa der Angst vor Demontage und Statusverlust, oder davor, dass sich der Mitarbeiter besser auskennt als man selbst. Die größte Angst ist dabei die, den eigenen Job zu verlieren und nicht mehr gebraucht zu werden. Denn der Querdenker will Dinge vereinfachen und verbessern. (Bild: © Anne M. Schüller)
Sehr viel wird aufgrund solcher Ängste blockiert, es werden natürlich immer andere Argumente vorgeschoben. Wenn die Angst schon da ist, ist es extrem schwer, einen klaren Kopf zu bewahren: Man sieht nicht mehr in die Weite und neue Möglichkeiten, sondern der Blick verengt sich, man sieht nur noch die Gefahr. Durch Angst fällt man auch leicht in alte Routinen zurück, weil sie einem Sicherheit geben.
Unternehmen beklagen häufig, dass Change-Prozesse am Widerstand der Mitarbeiter scheitern – woran liegt das?
Wer ganz klassisch eine Change-Maßnahme von oben ausrollt, braucht sich nicht wundern, wenn er die Mitarbeiter*innen damit platt macht – auch die Pionier*innen und Querdenker*innen im Unternehmen. Das demotiviert die Leute. Auch solche Change-Floskeln wie „man muss die Mitarbeiter*innen durch ein Tal der Tränen führen“, sind furchtbar. Entscheidend für den Erfolg ist das Prinzip der Freiwilligkeit: Man muss den ersten Schritt mit jenen gehen, die von Haus aus eine Pionier- und Abenteurermentalität haben. Die haben keine Angst vor dem Neuland, sondern sehen auf der anderen Seite des reißenden Flusses ein Land voller Möglichkeiten, wollen experimentieren. Diese ersten Schritte sollten nicht in entfernten Innovation Labs passieren, sondern mitten im Unternehmen. Diese Vorreiter dürfen im Neuland experimentieren und Erfahrungen sammeln und kommen mit Erfolgsstories zurück. Der sogenannten frühen Mehrheit der restlichen Belegschaft baut man ein paar Trittsteine und dann kommen die auch über den Fluss. Dann sind auf der anderen Seite schon viele, sie bauen eine Brücke, dann folgt die späte Mehrheit, denn mit der Brücke ist das Ganze gefahrlos. Und es gibt auch manche, die Bewahrer, die bleiben beim ersten Brückenkopf, ihre Routinen geben dem Unternehmen Stabilität, wie etwa die Buchhaltung. Nur die Bremser, die einfach gegen alles sind, kann man nicht mehr gebrauchen – von ihnen muss sich das Unternehmen trennen. Manche gehen auch freiwillig.
Was rätst du Querdenkern, wie sollten sie vorgehen?
Es gibt keine Vollkaskoversicherung für gute Ideen – die sind entweder top oder flop. Vorstöße, die nicht gleich was einbringen, sind den klassischen Unternehmen häufig zu riskant. Als Erstes sollten Querdenker daher zeigen, wie die Firma mit ihren Ideen sparen kann – ganz konkret, indem man etwa interne Bürokratiemonster aus der Welt schafft, die Zeit, Ressourcen und somit Geld kosten. Dann haben sie eine Legitimation, ihre eigentliche Lieblingsidee umzusetzen – sie haben sie sich somit verdient. Die erste Frage ist ja immer: Was kostet es und was an Umsatz bringt es? Wenn sich das Unternehmen durch eine Initiative Geld spart, ist Geld vorhanden, um ein neues Projekt anzugehen – dann ist das taktisch eine sehr geschickte Ausgangssituation. Und es gibt in Unternehmen an allen Ecken und Enden Möglichkeiten, zu sparen. Was die Querdenker*innen lernen müssen, ist außerdem, ihre Ideen so zu argumentieren, dass es für andere annehmbar und nachvollziehbar ist. In meinem Buch widme ich daher ein ganzes Kapitel der Kommunikation und Psychologie. In ihrem Überschwang entgeht den Querdenkern oft, dass andere nicht mit ihren Ideen mitkommen. Das Neuland, das für sie voller Chancen steckt, ist für die anderen voller Gefahren.
Kann nicht auch die Idee, Bürokratie abzubauen, auf Widerstand stoßen?
Ja, in dem Moment, in dem ich unnötige Prozesse und ein Zuviel an Bürokratie wegnehme, nehme ich auch jemandem etwas weg – nämlich dem, der diese Prozesse einst installiert hat und der davon profitiert. Klassisches Abteilungsdenken ist oft statusgetrieben: Meine Abteilung muss die wichtigste sein. Sie wird mit Regeln, Normen und Mitarbeiter*innen aufgebauscht. Wenn der Querdenker das wieder abbauen will, bedeutet das drohenden Verlust: Ich muss mich von Pfründen, vielleicht von Mitarbeiter*innen trennen, die nicht mehr gebraucht werden, weil Prozesse etwa automatisiert werden sollen. Ich erleide also als Führungskraft womöglich einen Verlust an Status, Macht, die Option auf einen Karrieresprung. Auch in klassischen Unternehmen geben viele Manager*innen vor, etwas ändern und den Sprung in die Zukunft schaffen zu wollen, aber: Sie gehen gar nicht an ihre eigenen Prozesse, sondern machen eben ein bisschen New Work – mit schickem Bällebad, einem modernen Großraumbüro und Home Office. Oder die Mitarbeiter dürfen in einer Ecke etwas Working out loud machen. Doch Silos und Hierarchien abbauen? Das gehen die Manager nicht an, weil es auf ihre Kosten ginge. Man sägt nicht an dem Ast, auf dem man sitzt. Lieber wird abends an der Bar ausgemauschelt, wo man noch eine Analyse oder Studie braucht, um solche Prozesse hinauszuzögern.
In Jobinseraten von Konzernen liest man regelmäßig: wir suchen kreative, innovativ denkende Köpfe.
Ja, und so werden gerade junge Talente ins Unternehmen gelockt. Wir müssen moderner, digitaler, globaler, newworkmäßiger werden – heißt es dann. Das Erste, was die jungen Leute dann im Onboarding lernen, ist, wie man sich im Unternehmen benimmt, was Usus ist, wie man es besser nicht macht und welche Tabuthemen man lieber nicht anspricht. Die jungen Querdenker*innen werden ruckzuck eingenordet. All ihre Ideen und Initiativen verschwinden in den ersten sechs Monaten – oder die jungen Leute selbst verschwinden wieder aus dem Unternehmen. Viele fügen sich dem Konformismus und haben bald die Lust an Neuem verloren. Das beginnt übrigens schon beim Assessment Center, wo es eine „richtige Lösung“ gibt und superkreative Lösungen durchfallen. Man gibt sich als Arbeitgebermarke nach außen sehr modern und bei einem tatsächlichen Querdenker macht die HR-Abteilung rasch einen Rückzieher a la: „So quer wollten wir es dann doch nicht.“
"Viele Manager haben das neueste Smartphone in der Tasche, agieren aber mit den Managementtools aus dem letzten Jahrhundert. Mit alten Waffen kann man aber keine neuen Kriege gewinnen."
Wie steht es mit verdeckten Querdenker*innen, die sich im Unternehmen nicht zeigen, weil sie Nachteile befürchten?
Sehr klassische Unternehmen aus der industriellen Vergangenheit haben nicht viele Querdenker*innen, denn in die Produktionsprozesse hatten sich alle einzufügen. Aus dieser Zeit stammt ja auch Command & Control. Hinzu kommt: Es wird in der Regel belohnt, sich an Vorgaben zu halten. Spätestens im Jahresgespräch – wenn so etwas Furchtbares noch stattfindet – wird besprochen: Hat der Mitarbeiter seine Ziele erreicht, hat er die Budgets eingehalten und verlief alles in-time? Für Punktlandungen auf Vorgaben kriegt er seinen Bonus. Man wird also belohnt, wenn man brav nach Vorgaben arbeitet und nicht ständig die Hand hebt und weiß, wie es besser geht. Es ist eine Typsache, aber viele Menschen finden sich spätestens dann damit ab und hören auf, zu opponieren. Damit gehen die Innovations- und Querdenkermöglichkeiten im Unternehmen rasch verloren.
Was, wenn ich dieses Belohnungssystem verändere und das Querdenken belohne? Hast du Beispiele, dass das funktioniert?
Gehen wir mal davon aus, das Unternehmen hat offensichtliche Querdenker*innen vertrieben, die meisten haben sich angepasst und ein paar Schlummernde gibt es vielleicht noch. Die Frage ist: Wie kann ich sie aufwecken, wie die zarten Pflänzchen durch Gießen zum Blühen bringen, das etwas Großes draus wird? Hier kann ich als Führungskraft in meinem Bereich einiges tun, um diese Mitarbeiter*innen zu ermutigen. Allerdings muss sich auch das Unternehmen an sich die Frage stellen: Welche Strukturen verhindern, dass wir im großen Stil überhaupt solche wertvollen Menschen für die Zukunft haben? Da landen wir sehr schnell bei den falschen Belohnungssystemen. Der nächste Schritt wäre, Ambidextrie zu belohnen: Die bestehenden Produkte, die noch Gewinne bringen, muss ich weiterführen, daneben gibt es neue Projekte und Initiativen. Die Frage ist also: Wie kann ich Mitarbeiter*innen belohnen, die das Neue wollen – und zwar in dem Wissen, dass neun von zehn Versuchen scheitern? Dafür muss ich eben auch Budgets zur Verfügung stellen. Dieses Mindset, diese Haltung des Experimentierens muss das Unternehmen belohnen, auch eine neue Fehler-Lernkultur entwickeln. Das ist eine strategische Überlebensfrage.
Du hast in deinem Buch Maynard Keynes zitiert, der sagte: es geht nicht darum, die Leute von neuen Ideen zu überzeugen, sondern davon, alte aufzugeben. Muss man nicht auch das Bewährte schätzen, damit Neues akzeptiert wird?
Ja, ich schreibe auch im Buch: Ehre das Gute und stehe zugleich für das bessere Neue. Es ist wichtig, zu kommunizieren: Seinerzeit war es genau das Richtige, wir waren unserer Zeit voraus, sind Marktführer geworden. Aber nun ist eine neue Zeit, die getrieben wird durch junge, frische, neue Unternehmen und Technologien. Ich behalte das Alte, solange es gut ist, und fange parallel in weiten Bereichen und nicht nur in Ecken damit an, Neues zuzulassen. Die Manager*innen würden das sofort verstehen, wenn man ihnen die richtigen Bilder gibt, zum Beispiel: Würdet ihr mit einem Handy aus dem letzten Jahrhundert telefonieren? Nein, die haben das neueste Smartphone am Ohr, agieren aber mit den Managementtools aus dem letzten Jahrhundert. Doch mit alten Waffen kann man keine neuen Kriege gewinnen. Solche Allegorien helfen oft in der Kommunikation.
Querdenker-Hacks für Unternehmen
Kill the company -Workshop: „Man befasst sich offen und ehrlich damit, an welcher Stelle die Firma angreifbar ist und gekillt werden könnte. Das wäre der wichtigste Hack für Unternehmen, davor haben die Manager jedoch die größte Angst. Die Aha-Effekte könnten aber größer nicht sein“, sagt Anne M. Schüller.
Killerphrasenfriedhof: Das haben wir immer so gemacht. Das will der Chef nicht. Das ist nicht dein Aufgabengebiet: Im Team-Workshop werden Phrasen gesammelt, die jede neue Idee abwürgen. Sie werden symbolisch beerdigt und kommen als Poster an die Wand, „eine schnelle und lustige Initiative“, sagt Anne M. Schüller.
Elephant in the Room: Hier wird auf den Tisch gelegt, was schon lange unausgesprochen ist: nämlich Strategien, die Innovation ausbremsen – wie etwa eine falsche Belohnungspolitik. „Diese Initative benötigt Fingerspitzengefühl und sollte nicht als erste Maßnahme stattfinden“, sagt Anne M. Schüller. Sie rät, mit symbolischen Stellvertretern zu arbeiten, etwa so: ,Stellen Sie sich vor, Sie wären der Gummibaum im Meetingraum: Was würde der zu unserer Querdenkerkultur sagen?‘ Als Gummibaum hat die Person plötzlich die Legitimation, das zu sagen, was sie sich sonst nicht getraut hätte.“
Querdenker verzweifelt gesucht ist im Gabal Verlag erschienen. ( Bild: © Gabal Verlag)