Transformation bei der Otto Group: "Wir irren uns nach vorne"

Kategorie:
Autor: Nicole Thurn
Datum: 04.12.2020
Lesezeit: 
3 Minuten

Podcast. Tobias Krüger hat wohl einen der forderndsten Jobs in der Otto Group: den "Kulturwandel 4.0" in einem komplexen Konzern mit 52.000 Mitarbeitern weltweit voranzutreiben, bedeutet: Ehetherapie, Nebelwand vor dem geistigen Auge und Schmerz. Warum es sich trotzdem auszahlt, erzählt er im Podcast-Interview.

Aalglatten Marketingsprech könnt ihr woanders haben. Tobias "Tobi" Krüger nimmt sich kein Blatt vor den Mund. "Pustekuchen", sagt er und "Scheiße" und: "Wir haben derbe viel ausprobiert. Wir schießen mit der Schrotflinte hin und schauen, wo sie trifft. 90 Prozent von dem Kram, den wir gemacht haben, ist gescheitert." Und: "Kulturwandel bedeutet: wir stehen vor einer Nebelwand und irren uns nach vorne." 

"Einhörner jagen, Bäume umarmen und Makramees knüpfen" - das war der Kulturwandel bei der Otto Group 4.0 schon mal nicht. Heute vor genau fünf Jahren, also am 4. Dezember 2015, wurde bei der Otto Group der Kulturwandel 4.0 für die rund 52.000 Mitarbeiter weltweit in 30 wesentlichen Unternehmensgruppen auf vier Kontinenten ausgerufen. Was dieses Mega-Vorhaben für den Einzelhandelskonzern bedeuten würde, konnte damals keiner ahnen. Nicht einmal der damalige Division Manager für Corporate Strategy, Tobias Krüger, der mit seinen Strategenkollegen "in Anzug und Krawatte, ja wirklich" sechs Meilensteine austüftelte und dem Vorstandsteam als Ausweg aus den roten Zahlen präsentierte. Am Startpunkt war also Powerpoint.

Power auf den Punkt war auch nötig. Seither, sagt Tobi im Podcast-Interview von "Arbeit mal anders", sei unglaublich viel passiert.  2016 wurde das konzernweite "Duzen" ausgerufen, um eine Vertrauenskultur zu etablieren. Ohne hohles Phrasengedresch. Vertrauen entstehe nämlich nur, "wenn man auch Kontakt hat". Der 2017 neu geholte CEO Alexander Birken verordnete sich und dem Vorstand eine Ehetherapie, das neue Kulturwandel-Team unter Tobi Krüger flog aus, um sich erst einmal das große Auskotzen von den einzelnen Teams im Konzern abzuholen: "Wir wollten wissen: was geht ihnen auf den Sack, was wollen sie anders haben?" 

Veränderung tut weh, denn man muss sich eben auch den unangenehmen Tatsachen stellen. Den großen und kleinen Konflikten, die seit Jahren unter der Oberfläche wabern, den oft aufreibenden Befindlichkeiten der Individuen und Teams, den unausgesprochenen Dingen, die nie wirklich funktioniert haben. Kurz gesagt: eine schmerzhafte Zäsur, durch die man durchmuss. Anders gesagt: es nervt, aber es muss halt sein.

Kulturwandel bei der Otto Group (© Otto Group)

Nebel rundherum

Und dann: die Nebelwand. "Wir haben viel gelernt und unsere Erfahrungen gemacht. Aber heute stehen wir vor neuen Herausforderungen und irren weiterhin durch den Nebel", sagt Tobi.  Ein Aufatmen gebe es da immer wieder, aber eben nur vorläufig.

Das Kulturwandel-Teams hat inzwischen lokale Teams in den Unternehmen der Otto Group ausgebildet, die wiederum dort in die Kultur hineinwirken. Crossfunktionale Teams arbeiten an digitalen Lösungen, Selbstorganisation wird groß geschrieben, ein eigenes Agile Center unterstützt die Teams des Konzerns mit agilen Coaches bei der Umsetzung agiler Arbeitsweisen. Sehr wichtig sei es, bewusstzumachen, "dass jeder Einzelne tagtäglich tausende kleinste Entscheidungen trifft, die kulturprägend sind", sagt Tobi Krüger.  In Workstreams wurden die verschiedenen Themen angegangen und nach unten kaskadiert, der Wandlungsprozess selbst war eine "Mischung aus Top-down und Bottom-up."  Erst waren es die Freiwilligen, die neue Projekte anpackten, inzwischen sind mehr als die Hälfte der Mitarbeiter im Kulturwandel-Boot als aktive Paddler dabei, schätzt Tobi. 

Mit Collabor8, dem hauseigenen 1700 Quadratmeter großen Coworking Space in der Hamburger Zentrale, hat die Otto Group in der achten Etage eine Spielwiese für die neue Arbeitswelt geschaffen: mit Social Spaces im Wohlfühldesign für Workshops, mit Bibliotheksräumen für die fokussierte Arbeit und offenen Lounges für Standups. "Die klassischen Meetingräume werden nur genutzt, wenn Teams erstmals zusammenkommen, oder für Vorstandssitzungen", erzählt Tobi. Der Arbeitstag verläuft so auch weitgehend selbstorganisiert. Vor der Corona-Pandemie sei die Anzahl der Home-Office-Tage dank Collabor8 in der Zentrale gesunken, "viele haben erkannt, dass die Infrastruktur hier besser ist als zuhause", so Tobi. Jetzt, während der Pandemie, sei Home Office das Credo.

Wer Angst hat vor so einem Riesenberg, den es zu erklimmen gilt, sei beruhigt: Der Wandel hat sich für das Unternehmen ausgezahlt und tut es weiterhin, sagt Tobi.

Wie er die letzten fünf Jahre der rasanten Transformation erlebt hat, wie er und sein Team losgingen, um einen immensen Impact  auf den Konzern hinzulegen, die sogar sein Wirken als Stratege großer M&A-Projekte in den Schatten stellen, warum der Zufall ein wesentlicher Motor und der Widerstand in der Belegschaft mehr Mythos als Realität war und warum es Tobis erklärtes Ziel ist, bald überflüssig zu werden, erzählt er in der 13. Folge von "Arbeit mal anders." Also, hol dir einen Kaffee, spitz die Lauscher und lass dich inspirieren. Spoiler Alert: Blaupause gibt es keine. 😉

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Beitrag von Nicole Thurn

ist Herausgeberin von Newworkstories.com, New-Work-Enthusiastin und langjährige Journalistin mit einem kritischen Blick auf die neue Arbeitswelt.

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