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Freiräume 2020: Virtuelle Pioniere für alle

Kategorie:
Autor: Nicole Thurn
Datum: 05.10.2020
Lesezeit: 
3 Minuten

Nach inspirierenden Begegnungen und viel Austausch im Vorjahr scharren die Freiräume 2020 in ihren Startlöchern: coronabedingt zwar am 10. und 11. November virtuell, aber dennoch mit vielen Pionieren aus New Work und innovativer Bildung, Open Spaces und nahbaren Sessions. 

Viele von uns kennen das: wir hetzen in die Arbeit, setzen vor dem Eingang flugs unsere Masken auf (nicht nur den Mund-Nasen-Schutz, sondern die imaginären) und spielen, sobald die Bürotür hinter uns schließt, unsere Rolle. Die der beflissenen Assistentin, des topmotivierten Sales-Managers, der toughen Abteilungsleiterin, die immer weiß, was gerade zu tun ist oder den latent frustrierten Key Account Manager, der weiß, was schiefrennt, aber lieber nix mehr sagt. Was auch immer es ist, die Wahrheit ist leider allzuoft: es ist verdammt anstrengend, immer einen auf Performer machen zu müssen. Und de facto fließt so viel Energie ins Leere in latenten Widerstand statt in Aufbruchstimmung und Veränderungsgeist.

Wie bringen wir mehr Ganzheit ins Unternehmen? Wie können wir mehr wir selbst sein und gerade dadurch motivierter, engagierter, produktiver? Wann ist "man selbst sein" gut, wann ist es zuviel? Mit diesen Fragen beschäftigten sich die Freiräume 2019. Die sogenannte "(Un)Conference" machte dabei ihrem Namen alle Ehre, denn: hier, in der Grazer Seifenfabrik mitten im Grünen, waren lauter Menschen, die schon zu Beginn des zweitägigen Zusammentreffens lachten und sich miteinander austauschten. Ohne Anzug und Krawatte, ohne Förmlichkeiten, ohne Zwang hatte man eher das Gefühl, auf einem Betriebsausflug gelandet zu sein. Da fiel es gar nicht schwer, man selbst zu sein.

Das zeigte auch das Format: barcampartig brachten im großen Stehkreis die Teilnehmer selbst ihre Themen ein und luden zu ihren Open Space Sessions. UnternehmerInnen, Führungskräfte und Gestalter plauderten unter Bäumen in der Sonne aus dem Nähkästchen, beim Coffee to go lernte man einander besser kennen. Die Nahbarkeit und das Lernen voneinander beflügelten. 

Im Open Space konnten Teilnehmer*innen auch eigene Sessions pitchen (©Freiräume)

Georg Tarne, Co-Gründer des Trinkflaschenherstellers Soulbottles, beschäftigte sich eingangs in seiner Keynote mit dem Thema "Wholeness" in der Arbeit. Bei Soulbottles lebt man seit 2014 Holacracy, das Thema Purpose ist im System verankert und mit dem Rosenberg-Kommunikationsmodell "Clear the air" sorgen Teams für reinigende Aussprache und Meinungsoffenheit. Spannungen im Team werden benannt, die betroffenen Personen hören zu und wiederholen das Gesagte, danach gibt es Wertschätzungsrunden. Was nicht so einfach ist, habe dem Team viel gebracht, sagt Georg: "Wir haben gemerkt, wir können uns streiten, gehen da gemeinsam durch und am Ende mögen wir uns lieber und kennen einander besser." Klingt eigentlich logisch, so lässt es sich doch auch besser zusammenarbeiten.

New Work Pioniere zum Anfassen

An den zwei Tagen teilten 40 Pionier-Unternehmen in sogenannten Pionier-Stationen ihr Wissen und gaben Einblicke in ihre spannenden Arbeits- und Bildungswelten - u.a. die Sparda Bank München, dm, der ÖAMTC, der Verein Studierende im Aufbruch und viele mehr.  Sehr inspirierend war der Case des Gasturbinenwerks von Siemens: er zeigt, was möglich ist, wenn man hartnäckig dranbleibt, die Mitarbeiter einbindet und den Veränderungskurs immer wieder adaptiert. Die Fertigungsplaner Ronny Grossjohann und Robert Harms erzählten, wie das Gasturbinenwerk im Jahr 2016 kurz davor stand, in Billiglohnländer outgesourced zu werden, Stellenabbau stand damals im Raum. Die beiden wollten das nicht hinnehmen und starteten eine Challenge, nämlich, die extern gelieferten Brenner inhouse herzustellen und das auch noch billiger. Sie begannen, an der Fertigungslinie zu tüfteln, bezogen die Mitarbeiter ein - zuerst als eine Art inhouse-Startup konzipierten sie die Fertigungslinie mit dem Ok des Vorstands neu. Die Werksarbeiter gingen allerdings in den Widerstand. Vorbei war es aber noch nicht: die beiden starteten das Projekt neu, diesmal mit freiwilligen Mitarbeitern - und siehe da, es fanden sich rund 30. Sie wurden in fünf Cluster eingeteilt und begannen in Selbstorganisation zu arbeiten - die einen soziokratisch, die anderen basisdemokratisch. Manche wollten die Entscheidungen auf Ronny und Robert zurückspielen, doch die blieben hart. Es funktionierte. Klare Ziele und klarer Arbeitsrahmen brachten Motivation. Nur die bisherigen Gruppenleiter waren unzufrieden - sie fühlten sich fehl am Platz. Für sie wurde das neue Cluster "Produktinnovationen" geschaffen. Das Fazit: Die Produktionszeiten wurden um 80 Prozent reduziert, die Produktionskosten für Brenner um bis zu 50 Prozent. Die Fertigungslinie startete mit ersten Aufträgen im Frühjahr 2016 – sogar sechs Monate früher als geplant.

Freiräume 2020: Virtuell und dennoch nah

Durch Corona haben die beiden Veranstalter und Coaches Gregor Karlinger und Manuela Grundner beschlossen, diesmal die Freiräume 2020 zu verschieben und virtuell anzubieten: sie finden am 11. und 12. November 2020 statt. "Wegen der Corona-Pandemie hatten wir als Veranstalter einer schwierigen Entscheidung zu treffen: Die Freiräume 2020 abzusagen und für dieses Jahr ausfallen zu lassen, oder zu versuchen, die Freiräume zwei Tage lang online zu veranstalten", erzählt Gregor. Das virtuelle Format soll dem Sinn des Events keinerlei Abbruch tun: "Wir sind der Meinung, dass es gerade jetzt notwendig ist, den Dialog zur Zukunft von menschengerechtem Arbeiten in Richtung Selbstorganisation, Ganzheit, Sinn zu führen", unterstreicht er.

Das persönliche Kennenlernen und der Austausch werden auf der (Un)Conference daher auch virtuell gefördert: "Wir werden den Pausen auch im Online-Setting viel Raum geben, um Zufallsbegegnungen zwischen TeilnehmerInnen zu fördern. Wir werden ganz oft in Kleingruppen arbeiten, da unserer Erfahrung nach nur dort echter Dialog entstehen kann. Und wir werden die TeilnehmerInnen zu Reflexionsgruppen zusammenspannen, in denen sie im Verlauf der (Un)Conference immer wieder zusammenkommen werden, um ihre Eindrücke zu verarbeiten." 

Ich bin gespannt. Denn gemeinsam können wir die Zukunft gestalten - ob virtuell oder offline, jetzt erst recht. 

INFO: Auf der virtuellen Freiräume (Un-)Conference am 10. und 11. November 2020 sind die Leitthemen Ganzheit, unternehmerischer Sinn und Verantwortung. Speaker sind der Lehrer Christoph Schmitt zum Thema "Lernen neu lernen" und Wolf Lotter, Gründer des Magazins brand eins, zum Thema "Lust auf Verantwortung?"  In 40 Pionierstationen geben Unternehmen und Bildungseinrichtungen Impulse und Einblicke in eine neue Arbeits- und Bildungswelt. Infos und Tickets gibt es hier: https://freiraeume.community/freiraeume-2020/

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Beitrag von Nicole Thurn

ist Herausgeberin von Newworkstories.com, New-Work-Enthusiastin und langjährige Journalistin mit einem kritischen Blick auf die neue Arbeitswelt.

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