Beim holokratisch organisierten Digital-Dienstleister Boldare treffen die Teams strategische Entscheidungen und arbeiten wann und wo sie wollen. Wie CEO Anna Zarudzka und alle Mitarbeitenden übernimmt auch Büropapagei Bolo ganz verschiedene Rollen.
Anna Zarudzka ist bei der Digital- und App-Agentur Boldare nicht nur Co-CEO: sie ist für Vision und Strategie zuständig, coacht Mitarbeitende und ist Teil des PR-Teams. Und auch sonst läuft bei Boldare so einiges anders als in anderen Unternehmen. Im Interview erzählt Anna, wie sie mit ihrem Team in ganz Europa die Holokratie lebt.
NewWorkStories: Anna, wie arbeitet ihr bei Boldare derzeit: Büro, Home Office, oder beides?
Anna Zarudzka:Wir schreiben kein Hybridmodell vor. Es gibt Leute, die jeden Tag oder zweimal pro Woche ins Büro kommen, andere kommen gelegentlich alle paar Wochen oder auch nur einmal im Jahr ins Büro – das hängt ganz von ihnen und ihren Bedürfnissen ab. Unsere über 220 Mitarbeiter*innen sind über ganz Europa verteilt - Polen, Portugal, Deutschland, Spanien, Frankreich, Schweden, die Niederlande. Daher wollen wir ihnen so viel Flexibilität wie möglich bieten. Alle unsere Mitarbeiter*innen – egal ob Entwickler*innen oder nicht – arbeiten, wie es ihnen gefällt: also von zu Hause aus, von unseren sechs Büros in Polen, Deutschland und den Niederlanden) oder von jedem anderen Ort der Welt aus. Einige unserer Mitarbeiter*innen arbeiten zum Beispiel von Portugal, andere von Schweden aus. Wir schränken niemanden in irgendeiner Weise ein. Die einzige Bedingung ist eine gute Internetverbindung.
Ihr habt die Organisation nach holokratischem Vorbild umgebaut: Warum habt ihr euch dazu entschlossen? Gab es eine Krise, eine Initialzündung?
Um genau zu sein, haben wir nicht die Organisation umgebaut, sondern um ein Betriebsmodell bzw. Operating Model ergänzt und die entsprechenden Strukturen dafür geschaffen. Die kulturellen Grundlagen waren intern bereits vorhanden. Freiheit, Selbstorganisation und Eigenverantwortung waren von Anfang an in unserem Betrieb verankert. Initial war für uns aber, als wir 2017 binnen eines Jahres auf 100 Mitarbeiter*innen gewachsen sind. Hier mussten wir uns entscheiden, in welche Richtung wir gehen wollten – hierarchisch oder nicht. Wir entschieden uns für den zweiten Weg.
Warum gerade die holokratische Organisationsform?
Das war ein langer Prozess. Piotr Majchrzak, der Co-CEO von Boldare, hat eine ausführliche Recherche über mögliche Organisationsformen durchgeführt. Dann haben wir einige Monate mit Diskussionen unter uns, mit unseren Mitarbeiter*innen und anderen Expert*innen verbracht und sind zu dem Schluss gekommen, dass Holokratie das beste System für uns sein würde.
Was ist in den Prozessen und Strukturen anders als davor? Wo seid ihr vom Lehrbuch abgewichen?
Ich sehe zwei Hauptunterschiede: erstens ist unsere Struktur genauer und spiegelt die tatsächliche Aufteilung der Verantwortung wieder. Zweitens haben wir keine starren Positionen, sondern erfüllen verschiedene Rollen, was es uns ermöglicht, unsere Talente und Kompetenzen besser zu nutzen und zwischen verschiedenen Kreisen (Anm.: Teams) zu wechseln. Außerdem können Entscheidungen schneller und besser getroffen werden – weil sie von Expert*innen auf ihrem Gebiet und nicht von Manager*innen getroffen werden.
Ihr seid in Kreisen organisiert und trefft Entscheidungen dort gemeinsam. Wie funktioniert das genau?
Bei Boldare wissen wir genau, welche Rolle und welcher Kreis wofür zuständig ist, und das bezieht sich auch auf den Entscheidungsprozess. Der wichtigste Unterschied ist, dass wir nichts aufdrängen, sondern vorschlagen und um Feedback und Einwände bitten. Jeder kann also etwas vorschlagen oder eine Idee einbringen, aber wenn es sich um ein Thema handelt, das nicht in unseren Zuständigkeitsbereich fällt, wird die endgültige Entscheidung – d. h. das Fehlen von Einwänden – immer von der Rolle oder dem Kreis getroffen, die oder der in diesem speziellen Bereich zuständig ist.
Stichwort Quiet Quitting: Woher wisst ihr, dass es unter euren Mitarbeitenden tatsächlich kein Thema ist? Vielleicht sind manche vom Mitbestimmen genervt - gerade bei EntwicklerInnen gibt es das Vorurteil, dass sie lieber arbeiten wollen, als sich um strategische Entscheidungen zu kümmern.
Eine verteilte und flache Struktur geht nicht davon aus, dass alle mitmachen und sie erwartet das auch nicht! Man hat das Recht, "nur" das zu tun, was man tun soll. Ebenso kann keine Form der Arbeit Quiet Quitting verhindern. Das findet aus Gründen der Unsicherheit oder des Engagements statt - was überall möglich ist. Holokratie ist nicht das Allheilmittel für alles.
Die strategische Entscheidung einer Expansion nach Hamburg und Amsterdam wurde gemeinsam mit mehr als 200 Mitarbeiter*innen transparent über Slack diskutiert - wie lief das ab?
Die Entscheidung kam von unseren Geschäftskreisen, also unseren Teams, die den Bedarf an schnelleren Reaktionszeiten auf Marktveränderungen sahen. Alles begann mit einer offenen Diskussion auf Slack, damit sich alle daran beteiligen konnten. Sie sammelten Feedback und diskutierten Budgets. Jede*r konnte seine/ihre Meinung äußern, Fragen stellen und Feedback geben.
Was passiert, wenn es Widerstand gegen Entscheidungen bzw. gegen Vorhaben gibt? Wie läuft der Entscheidungsprozess ab, gibt es das Vetorecht?
In der Holokratie gibt es viele verschiedene Wege, Entscheidungen zu treffen, je nach Umfang des Problems oder der Frage. Das ist alles in der Holacracy-Verfassung beschrieben, die ein Leitfaden für die Arbeit in diesem System ist. Im Allgemeinen geht es darum, die typischen Fragen, die man den Kolleg*innen üblicherweise stellt - "Bist Du einverstanden?" oder "Habe ich Deine Zustimmung?" – umzukehren in "Hast Du irgendwelche Bedenken?" oder "Könnte mein Vorschlag ehrlicherweise für jemanden nachteilig sein?" Das verändert wirklich die Perspektive.
Ihr ermöglicht den Entwickler*innen auch an eigenen Projekten zu arbeiten. Wie organisiert ihr das?
Entwickler*innen, die nicht in gewerblichen Projekte involviert sind, können gebeten werden, sich in Pro-Bono-Initiativen wie Tech for Ukraine zu engagieren. Sie können mit anderen Kolleg*innen an etwas Eigenem arbeiten oder sich in Boldare’s interne Projekte einbringen. Der Bedarf und die Kapazität werden innerhalb des Teams besprochen.
Ihr seid ein schnelllebiges Unternehmen und arbeitet in Iterationen, also Testschleifen: wie lange dauert die Markteinführung einer App im Schnitt?
Wir verfolgen einen agilen Ansatz bei der Entwicklung digitaler Produkte und haben vier separate Umgebungen, eine für jede Produktphase – vom Prototyping und Testen über MVP (Anm.: minimal viable product), Market Product Fit und Skalierung. Es hängt also alles davon ab, in welcher Phase wir arbeiten, z. B. von der Produktkomplexität oder den Fachleuten im Unternehmen. Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage, da jedes digitale Produkt anders ist, aber wir haben Erfahrung mit MVPs, die in nur vier bis sechs Wochen entwickelt werden.
Wie geht ihr mit dem Thema Arbeitszeit um? Gibt es bei euch Zeiterfassung für mehr Produktivität und Effizienz - oder setzt ihr auf Vertrauensarbeitszeit?
Zeiterfassung nutzen wir nicht. Wir arbeiten für unsere Kund*innen und verpflichten uns zum Ergebnis, nicht zu den Arbeitszeiten. Wir kontrollieren nicht, ob jemand zu einer bestimmten Zeit auf der Arbeit ist, wir haben keine Stempelkarten, wir zählen keine Minuten. Stattdessen haben wir das beste Kontrollsystem – ein Team, das den Kunden gegenübersteht und jeden Tag mit ihnen Kontakt aufnimmt.
Ab welchem Punkt wird die Freiheit zu einer Belastung? Wie stellen Sie sicher, dass die Leute in solchen "Hochproduktionsphasen" nicht ausbrennen? Wenn niemand auf die Uhr schaut, steigen die Überstunden, wie Studien zeigen ...
Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten einer Medaille. Ich denke, dass jede*r sein eigenes Gleichgewicht finden muss. Um ehrlich zu sein - das ist extrem schwierig. Auch hier ist das 'Kontroll'-Element das Team, mit dem man arbeitet - das ist normalerweise ein gut funktionierender Mechanismus. Die Teams haben auch jederzeit die Unterstützung eines Scrum Masters.
Ihr habt die Mitarbeitenden am Gewinn beteiligt. Inwiefern bemerkt ihr einen Unterschied bei der Motivation?
Wir sehen die 20-prozentige Gewinnausschüttung nicht als einen einfachen Anreiz zur Steigerung der Motivation. Für uns ist sie ein Schlüsselelement, wenn wir über die Organisation nachdenken. Wenn wir alle hart arbeiten und uns gemeinsam für das Erreichen von Unternehmenszielen und -ergebnissen einsetzen, dann sollte auch der Gewinn mit allen Mitarbeitenden geteilt werden.
Wie hat sich deine Arbeit und dein Selbstverständnis als Co-CEO durch diesen Prozess verändert?
Wir sind meist nach außen hin Co-CEOs, wenn wir das Unternehmen rechtlich oder in offiziellen Situationen vertreten – es ist eine Art formales Werkzeug für uns. Intern erfülle ich, wie jede*r andere Mitarbeiter*in auch, mehrere unterschiedliche Rollen. Sie ändern sich je nach den aktuellen Bedürfnissen des Unternehmens.
Welche konkreten Rollen sind das derzeit?
Noch vor ein paar Monaten hätte ich über meine Rollen im Vertrieb- und Marketingteam gesprochen, heute sind sie anders. Diese Entwicklung und Variabilität ist die einzige Konstante. Ich bin für den "Back to Tech Think Tank" zuständig: sein Ziel ist es, Technologie wieder zu einem organisationsweiten Thema zu machen. Ich bin auch als Boldareship Academy Tutor in unserer internen Führungsakademie unterwegs, um das Führungspotenzial in den Mitarbeitenden zu stärken. Ich bin als Distributed Chief Business Development Officer für Vision und Strategie in der Geschäftsentwicklung zuständig. Als Leadlinks Guide biete ich den Kreisleitenden, die bei uns "Lead Links" heißen, Coaching und Mentoring. Und ich bin Vision and Strategy Mentor für die Teams, bin Mitglied im Zirkel für PR und Öffentlichkeitsarbeit und kümmere mich um die Boldare Foundation - hier liegt der Fokus auf unsere neu eröffnete Schule, um den Kindern unserer Mitarbeitenden und anderen Zugang zu demokratischer Bildung zu ermöglichen.
Was brauchst du unbedingt, um gut zu arbeiten – und worauf würdest du gern verzichten?
Ich kann mir definitiv nicht vorstellen, ohne eine übergreifende Vision oder ein Ziel für mein Tun zu arbeiten. Das verschafft mir Klarheit im Handeln und gibt meinen Entscheidungen eine Art Ordnung, auch ohne Plan - ich weiß dann intuitiv, welche Ideen und Entscheidungen schlüssig sind und welche keinen Sinn ergeben. Außerdem kann ich so problemlos mit Veränderungen umgehen - der Plan ändert sich, aber die größere Vision entwickelt sich nur weiter. Es ist ein Klischee, aber ich tue das, was ich tue, für die Menschen und wegen der Menschen. Ohne die Energie von Teams, Kunden und Gruppen von Menschen, verliere ich den Sinn. Sie sind miteinander verbundene Einheiten.
Ich kann auf tiefgreifende Risikoanalysen, die Planung von Details und die Prognose der Zukunft verzichten. Ich bin lieber näher an der Philosophie von "Agieren und Reagieren, Prüfen und Anpassen".
4. Gibt es den Office Papagei wirklich? Wo ist er, wie heißt er und was ist seine Rolle?
Unser Papagei hat den Männernamen Bolo, ist aber eigentlich ein Weibchen und lebt seit vielen Jahren mit uns im Büro. Bolo spielt viele Rollen: sie ist Begrüßungsmaskottchen, Ablenkungsmanöver, achtsame Freundin, Wecker und noch ein paar andere, die wir nicht kennen. (lacht)
Für wen ist das Arbeiten bei euch eher nichts? Und wie macht ihr das beim Recruiting klar?
Unser Unternehmen ist nicht für jede*n – das ist klar. Nur ein Drittel der Mitarbeiter*innen, die wir einstellen, fühlt sich in der Selbstorganisation wohl. Genau deshalb investieren wir viel, um den Menschen zu helfen, sich in diese neue Freiheit einzuleben. Manchmal brauchen sie Zeit, um ihre Herangehensweise und ihre Perspektiven zu ändern und um sich anzupassen. Manchmal entscheiden sie auch, dass Boldare nichts für sie ist – und das ist völlig in Ordnung. Der Ort, den wir schaffen, ist sicherlich nichts für Leute, die Vorgaben oder Kontrolle von Vorgesetzten brauchen, um sich sicher zu fühlen - statt selbstbestimmt ergebnis- und zielorientiert zu arbeiten. Es gibt auch große Herausforderungen für jene, die Remote Work nicht gewöhnt sind oder die sich ihre Arbeit großteils schönreden. Der Schlüssel liegt in der eigenen Offenheit und der Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen.