Ein Plädoyer für das Innehalten und einfach mal Da-Sein.
In einer aktuellen Studie der Boston Consulting Group wurden 20.000 Menschen in zwölf Ländern im Home Office befragt. Das wenig überraschende Ergebnis: Menschen mit Kindern und Job fühlen sich zunehmend gestresst. Unternehmen müssen damit rechnen, Talente und Führungskräfte zu verlieren. Für Frauen wirkt sich die Mehrfachbelastung signifikant stärker aus als für Männer. In Deutschland fühlten sich 40 Prozent der Befragten aus großen Unternehmen psychisch oder physisch durch das Home Office gestresst.
Wir waren gehetzt. Wir sind gehetzt. Wir werden gehetzt. Wir reagieren. Bling. Eine SMS. Zisch. Eine Mail. Wir meeten und reden und fühlen uns gestresst. Wir beruhigen das schreiende Kind, wir ermuntern das lernende Kind, wir schreien das allzu muntere Kind an. Wir sind noch gestresster. Zur Entspannung konsumieren wir. Wir konsumieren die Nachrichten und nackte Fakten und Fake News und Fake Erkenntnisse. Wir konsumieren eine Dosis Yoga mit Acai-Bowl oder eine Zigarette mit Espresso, wir konsumieren den eigenen Facebook-Kanal, den Facebook-Kanal des Freundes und dessen Freundes, und zwischendurch und meist abends konsumieren wir Sex, Netflix und Alkohol. Wir konsumieren jetzt auch noch den Purpose - nicht nur die Zahnbürste, auch der überzuckerte Smoothie Drink braucht ein Wofür (nix gegen den Purpose). Wir stressen und konsumieren uns zu Tode und merken spätestens am Ende unseres Lebens, dass der Sinn und der Tiefgang in unseren Beziehungen viel zu wenig Platz hatten. Weil da einfach keine Zeit war.
Wir lieben so langsam und ohne es zu merken, das digitale Abbild mehr als das echte Leben. Um dem Stress zu entkommen, schauen wir uns Instagram-Sonnenuntergänge an, den Blick fest auf das Smartphone gerichtet und übersehen, wie draußen vor dem Fenster die Sonne enttäuscht hinterm Horizont verschwindet. Wir konsumieren das (vermeintliche) Leben der anderen und vergessen dabei, unser eigenes zu leben. Wir haben und tun und müssen und klicken und scrollen. Aber viel zu selten sind wir einfach.
Es scheint, als hätten wir vergessen, wie leben geht: echte Nähe zuzulassen, echte Gespräche zu führen abseits von "Hast du Milch gekauft" oder "Kollege X hat Y noch nicht gemacht", uns Zeit zu nehmen, einander tatsächlich Aufmerksamkeit zu schenken und echte Fragen zu stellen, auf die der Andere nicht sofort eine Antwort weiß. Stattdessen sagen wir im Stress das Falsche zu laut oder sagen gar nichts.
Und dann sollen wir uns auch noch selbstoptimieren. Innen wie außen. Wir müssen besser werden und konsumieren das Ganze dann in Kursen und in Apps: wie finde ich die Liebe meines Lebens? Wie positioniere ich mich richtig? Wie bringe ich meine Mitarbeiter auf Kurs? Hilfe, mein Kind weint! High-Intervall-Training für Gestresste! Am Ende des Tages meditieren wir verzweifelt und sind bald am Ende, weil der Geist zu rastlos und die To-Do-Liste noch immer zu lang ist.
Also was ist jetzt die Lösung? Schalten wir doch einen Gang tiefer. Kommen wir auf die eine Frage, die wir uns und unserem Gegenüber noch nie gestellt haben. Auf das Hinterfragen an sich. Sagen wir klar Nein zu noch mehr Gebimmel am Smartphone und im Kopf. Sagen wir Ja zu der einen Sache in diesem Moment. Oder zu dem einen Menschen. Machen wir endlich wieder Deep Talk, Deep Work, Deep Life, Deep Love. Drücken wir die Reset-Taste im Kopf. Übernehmen wir Verantwortung für ein bewussteres Leben. Wir haben – möglicherweise – nur dieses eine.
Nur wie?
Vielleicht haben die Pandemie, die globale Schockstarre und der teilweise Reset des Lebens, schon ein bisschen dabei geholfen. Vielleicht haben die guten Gespräche wieder oder sogar zum allerersten Mal Einzug im Wohnzimmer gehalten – mit dem Partner, mit den Kindern, mit den Kolleg*innen. Vielleicht sind wir tatsächlich fallweise fokussierter auf das Wesentliche geworden – abseits von Klopapierbergen und FFP2-Maskengebotsschildern. Vielleicht geht da aber doch noch viel, viel mehr. Nämlich bewusst und intendiert. Also gut, wenn ich jetzt das ultimative Spazieren vorschlage, bekommt die Hälfte der Leser*innen einen psychisch bedingten Bandscheibenvorfall. Jetzt, wo wir schon ganze Städte-Marathons abspaziert sind, wollen wir einfach nicht schon wieder weitergehen. Und trotzdem ist Natur immer noch das Beste für unser Gehirn, unser Gemüt und unsere Nervensystem, das zeigen nicht nur Biophilie-Abhandlungen und Forschungen, sondern auch unser aller Erfahrung. Wenn wir tatsächlich in der Natur ankommen – und zwar ganz alleine ohne diskutierende Partner, ohne gesprächige Freunde oder ungeduldige Kinder, setzt das Hirn sich von selbst auf Reset. Der Geist wird wieder leicht und beginnt mit der leichten Windbrise und dem Vogelzwitschern und den Sonnenstrahlen zwischen den Baumblättern mitzuschwingen. Muss ja nicht spazieren sein - liegen auf der Wiese und Wolken beobachten tut es auch. Es ist so banal. Die besten Dinge im Leben sind banal.
Und dann, wenn wir ganz alleine für uns einatmend und ausatmend und durchatmend innerlich ruhig geworden sind, wenn die Gedanken sich von wild umherflitzenden Monstern in gemächliche, fließende Wellen verwandelt haben, dann stellt sich dieses besonnene, zarte Gefühl ein. Ganz leise und ganz tief unten. Dieser seltene seelen-ruhige Zustand des: Ich mache gerade nicht. Ich habe gerade nicht. Ich muss gerade nicht. Ich bin einfach. Jetzt.
Das geht übrigens auch auf der Couch.
https://www.newworkstories.com/2021/04/09/wake-up-call-1-seid-doch-endlich-alle-mal/